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PROJEKT SPERLING Nr. 14 - 12. April 2007:  ORIENT  UND  OKZIDENT

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über die pappelbrücke

flirrlichtig

wohin denn ich

 

 

 

 

Mario Fitterer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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The song ist very short because we understand so much.

 

Das Lied ist sehr kurz, weil wir so viel verstehen. 

 

Chona

 

 

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Anmerkungen

 

Mario Fitterer lebte im Elztal. Er schrieb Lyrik, Prosa und über Haiku. Am 13. Januar 2009 ist er nach langer Krankheit verstorben. Seit Jahrzehnten eng mit der deutschen Haikuszene verbunden und eine ihrer bekanntesten Persönlichkeiten, stand sein Name nicht allein für den Versuch der Integration des Haiku in den deutschen Sprachraum und dessen Literaturbetrieb, sondern gleichermaßen für zahlreiche Essays und Zeitschriftenaufsätze, in denen er das Genre theoretisch untersucht und seine Beziehungen zu anderen lyrischen Kurzformen aufgezeigt hat. Seine Haiku tendierten zu moderner Lyrik; in ihnen begegneten sich Orient und Okzident. Wesentlich blieb ihm dabei ein Grundelement des japanischen Originals, der leere, wortfreie Raum, wo in der Balance zwischen Sagen und Schweigen das Ungesagte das Unsagbare andeuten kann. Arbeiten von Mario Fitterer finden sich unter anderem in der Anthologie der deutschen Haiku, herausgegeben von H. Sakanishi, Sapporo 1979. 2007 erschien aus seiner Feder der Band EOS ES IST ROT ÜBERHOLT, Haiku und Prosa, dem auch das heutige Gedicht entnommen ist. Unvergessen in älteren deutschen Haikukreisen ist seine Aktion aus den neunziger Jahren, als er die Wände renovierungsbedürftiger Büroräume und Flure eines süddeutschen Amtsgerichts unerlaubt mit Haiku von Alain Kervern, Giorgios Seferis u.a. in französischer, griechischer und japanischer Sprache beschriftete.

Mit freundlicher Genehmigung von Frau Angela Fitterer. Bei der dritten Verszeile handelt es sich um ein Hölderlin-Zitat. Auf Kursivschrift oder Anführungszeichen zu dessen Kennzeichnung wurde hier verzichtet.

 

Chona, abgeleitet aus dem spanischen Vornamen Encarnación, hieß eine Indianerin vom Stamm der heute noch im Südwesten Arizonas lebenden Papago, die sich selbst O'odham (Menschen) nennen und als direkte Nachkommen der in dieser Region nachweisbaren Ureinwohner gelten. Archäologische Grabungen belegen erstaunliche kulturelle Errungenschaften. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die neunzigjährige Chona von der amerikanischen Anthropologin Ruth Murray Underhill interviewt. Der aus den Gesprächen entstandene Bericht vermittelt nicht nur faszinierende Einblicke in die Lebensgeschichte dieser Frau und eine uns völlig fremde, von magischen Vorstellungen bestimmte Welt, sondern führt auch in die Tradition der Stammeslieder ein, zumeist sehr kurze lyrische Gesänge, deren Entstehung oft auf Träume, Tagträume und Visionen zurückgeht. Wegen ihrer konzisen Bildhaftigkeit werden sie in der Fachliteratur häufig mit dem japanischen Haiku, dem Tanka oder imagistischen Gedichten verglichen. Sie sind bei weitem keine isolierte Erscheinung; besonders in Nord- und Mittelamerika galt der Besitz kleiner selbstgedichteter Lieder bei vielen Urvölkern als unerlässliche Voraussetzung für ein lebenswertes und erfülltes Dasein. Chonas in der amerikanischen Anthropologie berühmt gewordenes Diktum spielt sowohl auf objektives als auch auf subjektives Wissen und Verstehen an, inneres Gehör und Einfühlungsvermögen, also all das, was wir in der Theorie des Haiku unter dem Begriff des Assoziierens zusammenfassen können. Das Liedgut der Papago ist zudem Indiz für eine sehr alte Strömung mündlich überlieferter Poesie, mit der die Völker der Erde Natureindrücke, Gefühle und Gedanken in prägnante sprachliche Bilder und Lieder kleiden. Wir kommen darauf noch zurück. Zitiert nach Ruth Underhill: The Autobiography of a Papago Woman. Memoirs of the American Anthropological Association. Number 46, Menasha (Wisconsin) 1936, S. 23. Die Arbeit erlebte zahlreiche Neuauflagen. Gelegentlich wird sie antiquarisch im Internet angeboten. 

 

 

 

 

PROJEKT SPERLING Nr. 14 - 12. April 2007:  ORIENT  UND  OKZIDENT

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