[Das Journal]  [Kurzgedicht der Woche]  [Archiv]  [Maghrebinische Gedichte]  [Sperling]  [Texte]  [Impressum]  [News]  [Links]

 

PROJEKT SPERLING  Nr. 65 - 08. Mai 2008:  JISEI,  LETZTE  GEDICHTE

|

 

 

 

 

Kirschblüten fallen

auf einen angebissenen 

Knödel

 

 

 

 

Saruo

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

.......................................................................................................................................................................

 

 

[ Zitat Ludwig Wittgenstein: Die Menschen heute glauben … ]

 

 

.......................................................................................................................................................................

 

 

Anmerkungen

 

Letzte Gedichte, geschrieben im Angesicht des Todes und gedacht als Summe, Ausblick und Dank an das Leben, besitzen in Japan Tradition. Sie sind noch heute lebendiges Brauchtum und haben, soweit sie von Schriftstellern, Künstlern und religiösen Würdenträgern stammen, oft den Charakter eines wegweisenden oder die Gegensätze versöhnenden Vermächtnisses. Formvorschriften gibt es hierfür nicht. Wir kennen sowohl Gedichte im chinesischen Stil als auch Haiku und Waka bzw. Tanka. Etliche dieser Verse haben Berühmtheit erlangt, so das jisei no ku (Abschiedsgedicht) von Matsuo Bashô, das er am 25. November 1694 dem Schüler Donshû diktierte:

Tabi ni yande / yume wa kareno wo / kakemeguru

Krank auf der Reise / mein Traum irrt umher / im verblühten Moor

Erstaunlich an dem überlieferten Bericht ist die Mitteilung, Bashô habe noch am Vorabend die Abfassung des jisei no ku mit der Begründung abgelehnt, jedes seiner Gedichte der vergangenen zwanzig Jahre sei ein solches Abschiedshaiku gewesen. Damit nimmt er in Anspruch, dessen Bedeutung, Endgültigkeit und ungewöhnliche Perspektive ständig heraufbeschworen zu haben. Die kritische Durchsicht und Analyse der Werke Bashôs führen tatsächlich zu dem Ergebnis, dass in zahlreichen Versen die von den japanischen Schlüsselbegriffen ryûkô (Vergänglichkeit) und fueki (Beständigkeit, Dauer) geprägte Bilderwelt aufscheint, die man von einem Abschiedsgedicht erwartet – nicht zuletzt in seinem Froschhaiku. Doch damit nicht genug: Selbst wenn sie kaum als solche entworfen wurden, tragen viele wichtige Haiku der Jahrhunderte nach Bashô den Stempel des jisei no ku, als hätte er, der keine Aufzeichnungen zur Poetik hinterließ, mit diesem Fingerzeig der Nachwelt nicht allein das Geheimnis der eigenen Kunstfertigkeit, sondern das innere Wesen des Haiku (hai-i) an sich enthüllt. Dass jeder Schreibende von Bashôs Methode profitieren kann, ist offenkundig. Äußerste Konzentration auf das Wesentliche und die Eindringlichkeit der Bilder, die er für ein „letztes“ Gedicht finden muss, führen zu Ergebnissen, die sogar den Erfahrenen überraschen und ihn gelegentlich an der eigenen Autorschaft zweifeln lassen.

 

Über Saruo, der das Abschiedsgedicht 1923 als Fünfundsechzigjähriger schrieb, weiß man recht wenig. Er rückt einen einfachen, doch schmackhaften Reiskloß ins Licht, von dem er nur kosten konnte und der schon bald unter der vergänglichen, aber sich Jahr für Jahr erneuernden Schönheit der Kirschblüten spurlos verschwunden sein wird. Das Haiku ist zitiert nach James Hillman: Vom Sinn des langen Lebens. München 2000, S. 194. Die maßgebliche Anthologie letzter Gedichte ist Yoel Hoffmann: Japanese Death Poems. Rutland (Vt.) 1986, der Hillman seine Beispiele entnommen hat (S. 277 – 278).

 

Zu Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) vgl. die Ausgaben 23 und 45. Zitiert nach einer undatierten Notiz aus meinem Archiv.

 

 

 

 

PROJEKT SPERLING  Nr. 65 - 08. Mai 2008:  JISEI,  LETZTE  GEDICHTE

|